Nachruf zum Tod von Rüdiger Nehberg 

Ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechte von Minderheiten und Benachteiligten lebt nicht mehr

Seine Worte, die mir Rüdiger Nehberg bei einem Interview im November 2007 nach einem Vortrag in Lünen sagte, haben mich tief beeindruckt. „Niemand ist zu gering, etwas zu verändern, das ihn stört. Hauptsache, er hat eine Vision, eine starke Motivation und die richtige Strategie. Natürlich gehören auch Risikobereitschaft, Ausdauer, gute Partner und ein gut gefütterter Schutzengel dazu.“ In der vergangen Woche ist der Abenteurer und Menschenrechtsaktivist im Alter von fast 85 Jahren gestorben. Er hat der Welt gezeigt, was man als einzelner mit Mut und hartnäckiger Zielstrebigkeit erreichen kann.

Rüdiger Nehberg, der stets bescheiden war, seine eigenen Leistungen oft humorvoll vortrug, nicht prahlerisch sondern eher demütig darstellte, hat es geschafft, die Welt ein Stück besser zu machen. Er hätte den Friedensnobelpreis verdient gehabt, aber wahrscheinlich hätte er ihn mit Mitstreitern geteilt und das Preisgeld in seine Arbeit gesteckt.

Irgendwie bin ich ein Glückspilz
Seine letzten Worte wenige Wochen vor seinen plötzlichen Tod am 1. April, zeigen, wie er sein Leben einschätzt: „Irgendwie bin ich ein Glückspilz! Weil ich noch immer lebe. Nicht nur, weil ich das Glück hatte, mittlerweile 22 bewaffnete Überfälle überlebt zu haben. Sondern vor allem, weil ich als Ex-Bäcker laut Statistik der Lebensversicherer mit 68 meinen Teigschaber längst hätte aus der Hand legen müssen. Und weil ich so viel erlebt habe, dass es für drei Leben ausreichen würde.“ Er wusste, dass er in seinen letzten Lebensjahren immer noch mehr Pläne als Restlebenszeit hatte.

Rüdiger Nehberg hatte Visionen und setzte sie um: „Man muss an das Unmögliche glauben.“

Geboren wurde Nehberg 1935 in Bielefeld, „im Dunstkreis von Dr. Oetkers Vanilleduft“, wie er selbst sagte. Da Wohlgeruch noch nicht satt macht, brach er als Vierjähriger zum ersten Mal aus, machte sich  zu Fuß auf einen fünf Kilometer langen Marsch zu seiner Großmutter auf, weil die so leckere Trockenäpfel hatte. Er verlief sich, die Polizei fand ihn am nächsten Morgen schlafend unter einen Rhododendronbusch. Aber der Abenteurer in ihm war geweckt. Nach abgeschlossener Bäckerlehre machte er sich 1952 mit einem selbst zusammengebastelten Fahrrad und einer Mark pro Tag auf den Weg nach Paris, wie er seinen Eltern sagte. In Wirklichkeit fuhr er aber nach Marokko, um die Kunst des Schlangenbeschwörens zu lernen. In den Folgejahren unternahm er Radtouren nach nah und fern und kam dabei auch in unsere Nähe bis zum Halterner Stausee. 1965 machte er sich als Bäcker und Konditor in Hamburg selbstständig. Der Betrieb lief so gut, dass er zeitweise fünfzig Beschäftigte hatte. Sein einfacher Slogan hieß: „ Es gibt Schlechtere“. 

Vom Abenteurer zum Menschenrechtsaktivisten

Rüdiger und Annette Nehberg

Doch immer wieder meldete sich der Abenteurer in ihm. Er baute in der Backstube eine Kletteranlage und begrüßte seine Beschäftigten von der Decke aus. Wenn es eben ging, nahm er sich Auszeiten und brach aus, in jungen Jahren zog es ihn vor allem nach Afrika. Er unternahm mehrere Fahrten auf dem Blauen Nil, bei der dritten Expedition wurde seine Gruppe überfallen und sein Freund Michael Teichmann von den Banditen erschossen, währende der Rest fliehen konnte. Im Jahre 1977 begab er sich mit zwei Begleitern nach Äthiopien, um die Wüste Danakil, die auch als „Höllenloch der Schöpfung“ bezeichnet wird, zu Fuß zu durchqueren. In den USA stieß er auf den Begriff „Survival“ und die dahinter stehende Überlebenstechniken, die er wissbegierig aufnahm und erlernte. „Ich versetzte mich in die Lage, allein in der Natur klarzukommen, wie jedes freilebende Tier, ohne Ausrüstung, auf simulierter Flucht.“ 

1981 begab sich Nehberg auf einen 1000 Kilometer langen Deutschlandmarsch von Hamburg nach Oberstdorf, lebte nur von dem, was er abseits der Zivilisation in der Natur fand, u.a. überfahrene, Tiere, Würmer, und vor allem Insekten, wegen „des hohen Proteingehhalts“, wie er sagte. Anfangs brachte es ihm den Beinamen „Würmerfresser“ ein, doch schon bald wurde er zum „Sir Vival“ geadelt. Mit seinem neuen Wissen wagte er sich in den brasilianischen Regenwald. „Ich wurde Augenzeuge des drohenden Völkermordes an den Yanomami-Indianern durch eine Armee mafiös gesteuerter Goldsucher.

Rüdiger Nehberg (re) und Diethelm Textoris beim Interview im Lüner Park-Hotel.

Flinten gegen Pfeile. Die Verlierer standen fest. Ich entschloss mich, ihnen beizustehen.“ Durch dieses prägende Erlebnis wurde aus dem Abenteurer ein Menschenrechtsaktivist. Doch es war kein kompletter Wandel. Nehberg verstand es vortrefflich, Abenteuerlust mit Menschenrechtsaktionen zu verbinden. Er drückte es so aus: „Mein Abenteuer erhielt Sinn, das Leben Erfüllung.“ Seine Bäckerei hat er zwischenzeitlich verkauft. Mit drei spektakulären Ozeanüberquerungen, mit einem Floß, im Schlauchboot und auf einem Baumstamm machte er die Weltöffentlichkeit auf die bedrohten Völker aufmerksam und erreichte u.a., dass die Yonomami im Jahre 2000 einen Schutzstatus erhielten. 

In der Zeit, als er nach neuen Herausforderungen suchte und neue Ungerechtigkeiten aufdeckte, lernte er seine spätere Frau Annette Weber kennen: „Sie war der Deckel auf meinen kochenden Topf.“ Gemeinsam kümmerten sie sich um die medizinische Versorgung der Waiãpi-Indianer. Dann wurden sie auf die weibliche Genitalverstümmelung aufmerksam, lt. Nehberg ein 5000 Jahre alter verbrecherischer Brauch, dem täglich 8000 Frauen, meist Muslimas, zum Opfer fallen. Diesen Brauch wollten sie nicht von außen bekämpfen, sondern ihm mit der Kraft und Ethik des Islam ein Ende bereiten. Die von ihnen gegründete Menschenrechtsorganisation Target bündelte und unterstützte von nun an ihre Aktionen und schuf eine breite finanzielle und ideelle Basis. Es folgte die Karawane der Hoffnung: Mit 14 Kamelen, zehn 10 Begleitern, Kameramann und Dolmetscher zogen Rüdiger Nehberg und Annette Weber durch Mauretaniens Wüste. Von Oase zu Oase, von Zelt zu Zelt, von Mensch zu Mensch. In arabischen Lettern auf grünen Fahnen die Botschaft der höchsten islamischen Autoritäten des Landes: „Der Islam sagt NEIN zur weiblichen Genitalverstümmelung. Sie ist Sünde!“ Die dann folgenden Fatwas gegen weibliche Genitalverstümmelung bildeten die Grundlage der Aufklärungskampagne „Das Goldene Buch“ als Ergebnis der „Internationalen Konferenz Islamischer Gelehrter“ in Al Hazar, zu der TARGET im Jahr 2006 hohe Würdenträger des Islam geladen hatten.

Nehbergs letzte große Vison wurde noch nicht Wirklichkeit: Diese Botschaft sollte in Mekka 100.000 von Pilgern verkündet werden.

Den endgültigen Sieg über den Brauch der Genitalverstümmelung müssen die Nachfolger erringen
Eine seiner Vision konnte Nehberg nicht mehr in die Wirklichkeit umsetzen. Er wollte bei einer Audienz dem König von Saudi Arabien die schrecklichen Bilder der Genitalverstümmelung vorlegen. „Ich möchte erreichen, dass die Ächtung der Female Genital Mutilation vom heiligsten Ort des Islam verkündet wird: in Mekka. Dort erreicht man jeden Gläubigen in seinem tiefsten Herzen. Doch dazu bedarf es der Zustimmung des saudischen Königs. Er gilt als der einzige Erbe des Gesamtvermächtnisses des Propheten. Er könnte die Ächtung per Königsdekret mit einem einzigen Federstrich verfügen und würde damit unsterblich in die Menschheitsgeschichte eingehen. Doch der Weg zum König ist mir bislang verwehrt geblieben.“ Den Kampf gegen die Genitalverstümmelung werden seine Nachfolger weiter führen müssen.

Beim eingangs angesprochenen Interview fragte ich Nehberg, ob er Vorkehrungen getroffen habe, dass sein Lebenswerk weiter geführt wird, wenn es ihn eines Tages nicht mehr gibt. Nehbergs damalige Antwort lässt hoffen: „Meine Frau Annette ist in vielen Dingen „schlimmer“ als ich, im Kampf gegen die Genitalverstümmelung stand sie mir immer zur Seite, sie wird mein Werk fortführen. Aber sie ist eine Frau, sie wird sich in der Männerwelt der islamischen Rechtsgelehrten schwer durchsetzen können. Doch sie wird männliche Unterstützer haben. Ich denke da z.B. an meinen Freund Klaus Denart, der seinen Globetrotter Versandhandel verkauft hat. Er ist zehn Jahre jünger als ich und genauso engagiert.“  

Info:

  • Am 6. April erscheint Rüdiger Nehberg autobiografisches Buch mit dem Titel „Dem Mut ist keine Gefahr gewachsen“. Lt. Verlagsangabe zugleich Lebenskrimi und packendes Manifest.
  • Zu bekommen ist es in der Buchhandlung am Amtshaus, die wir in diesen schweren Tagen unterstützen sollten. Bestellungen werden telefonisch unter 0231 – 33 99 66 oder per- E-Mail unter info@buchhandlung-am-amtshaus.de angenommen, die Bücher werden dann nach Hause geliefert. Wegen der starken Nachfrage am Erscheinungstag kommt es im Augenblick zu Lieferengpässen. Die Buchhandlung am Amtshaus nimmt Vorbestellungen an. 

 

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