James Lovelock: NOVOZÄN – Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz
Der Brite James Lovelock ist in diesem Jahr am 26. Juli 101 Jahre alt geworden. Er kann wissenschaftliche Abschlüsse in Medizin, Chemie und Biophysik vorweisen. Gleichwohl bezeichnet er sich selbst nicht als Wissenschaftler, sondern als Erfinder bzw. als Mechaniker. Seine Erfindungen haben ihm mehr als 50 Patente eingebracht. Er ist Autor von mehr als 200 Aufsätzen zur Medizin, Biologie und Geophysiologie. Er ist Mitglied der der Royal Society und Träger zahlreicher Umweltpreise. Zwei seiner Erfindungen stehen auf dem Mars. Der britische „Oberver“ bezeichnet ihn als „größten wissenschaftlichen Visionär unserer Zeit“.
Lovelock ist bekannt als Vater der „Gaia Theorie“, die besagt, „dass das Leben auf der Erde eine sich selbst regulierende Gemeinschaft von Organismen ist, die untereinander und mit ihrer Umgebung kommunizieren.“ (der Freitag vom 23.7. 2020, S. 15)
James Lovelock hat zusammen mit dem Journalisten Bryan Appleyard ein neues Buch geschrieben, das im Januar im C.H. Beck Verlag erschienen ist:
NOVOZÄN – Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz
In diesem – vermutlich seinem letzten – Buch wagt Lovelock erneut einen Blick in die Zukunft und geht dafür zunächst zurück auf das 18. Jahrhundert . Um diese Zeit habe das ANTHROPOZÄN eingesetzt. Diese Epoche sei bestimmt worden „von den Errungenschaften, durch welche die Menschen schließlich in der Lage waren, Geologie und Ökosystem des gesamten Planeten zu verändern.“ Das habe der Erde durch Umweltzerstörung erheblich geschadet, habe zugleich aber auch ein außergewöhnliches System von Bewußtsein, Wissen und gesellschaftlichem Wohlstand ermöglicht.
Derzeit seien wir in einer Übergangsphase zum NOVOZÄN, das nach Lovelocks Einschätzung schon angebrochen sein könnte; dann nämlich, „wenn unsere Technologie beginnt, sich unserer Kotrolle zu entziehen, wenn sie Intelligenzen erzeugt, die weit größer und, was entscheidend ist, viel schneller sind als unsere eigene.“
Es ist das Zeitalter der Superintelligenz, das nicht von Wesen aus Fleisch und Blut bestimmt wird, sondern von elektronischen Wesen einer künstlichen Intelligenz.
Zwar sieht er in diesem Prozess durchaus die Gefahr, dass die Menschheit sich selbst auslöscht, allerdings ist er zuversichtlich, dass Menschen und Maschinen vereint sein werden, da es beider bedürfe, die Erde als lebenden Planeten zu erhalten. Das könne mit Hilfe der Cyborgs gelingen.
Cyborgs als die Retter der Welt
Cyborgs – diese Bezeichnung hat bereits Eingang in unsere Sprache und unser Denken gefunden. Sie leben schon unter uns, denn als Cyborg werden Menschen bezeichnet, in deren Körper technische Geräte als Ersatz oder Unterstützung nicht ausreichend leitungsfähiger Organe integriert sind. Nach dieser Definition des Dudens wären bereits all jene Cyborgs, die z. B. einen Herzschrittmacher oder eine künstliche Augenlinse tragen. Im Vergleich zu diesen beiden Beispielen ist heute bereit technisch schon erheblich mehr möglich. Wir können uns kleine Magnete implantieren lassen, die Türen öffnen, bargeldlos Zahlungen leisten o.ä. Das Cochlea-Implantat z. B. verbindet den Hörnerv mit einem Sound-Prozessor, wodurch Gehörlose und Schwerhörige wieder hören können.
Die Grenze zwischen einem medizinischen Gerät, das seinem Träger helfen soll, und der Optimierung von Menschen ist fließend und wird derzeit noch als Problem angesehen.
Lovelock sieht durchaus durch die technische Entwicklung und den daraus entstehenden Folgen, dass die Menschheit ein Massensterben auslösen könnte, dem sie dann letztlich selbst zum Opfer fällt. Allerdings sieht er eine Chance: In dem Augenblick, in dem die Menschheit die ungeheure zerstörerische Kraft entwickelt hat, könnten sie auch „Geburtshelfer“ der Cyborgs werden; Eltern zwar, aber die Cyborgs wären nicht ihre Kinder. Es würden künstliche Intelligenzen sein, die zehntausendmal schneller denken, als wir es können. Sie werden sich selbst programmieren und fortpflanzen und sie werden erkennen, dass auch ihre Elektronik einen Planten – wie die Erde – mit erträglichen Temperaturen benötigt.
Die künftigen Menschen, wie auch immer sie beschaffen sein werden, werden von den Cyborgs geduldet. Somit ist für Lovelock die KI nicht der Untergang der Menschheit, sondern ihre Rettung.
Es kann sein, dass das NOVOZÄN eines der friedvollsten Zeitalter der Erdgeschichte wird
Der Preis für diese Zusammenarbeit ist der Verlust unseres Status als intelligentestes Wesen der Erde. Wir blieben Menschen, die in menschlichen Gesellschaften leben, dabei würden die Cyborgs „für unerschöpflichen Nachschub an fantasievoller und zugleich erhellender Unterhaltung sorgen“.
Wir Menschen könnten ihnen Unterhaltung bieten, so wie Tiere und Blumen uns Menschen heute erfreuen.
Lovelock vermeidet eine konkrete Beschreibung der Cyborgs – dem Versuch, die Cyborgs von der menschlichen Statur und deren biologischen Beschaffenheit her zu denken, versagt er sich.
Wir können derzeit nicht ansatzweise erahnen noch bestimmen, was die Zukunft mit eigenständig denkenden – von unseren Regeln befreiten – Cyborgs bringen wird und in welchen Zeiträumen diese Entwicklung stattfinden wird. Aber in einem Punkt wagt Lovelock eine zuversichtlich stimmende Prognose:
„Wir müssen nicht annehmen, dass das neue künstliche Leben, das im Novozän entsteht, automatisch so grausam, todbringend und aggressiv sein wird, wie wir es sind. Es kann sein, dass das NOVOZÄN eines der friedvollsten Zeitalter der Erdgeschichte wird. Aber wir Menschen werden die Erde zum ersten Mal mit anderen Wesen teilen, die intelligenter sind als wir.“
Lovelocks Buch – es ließe sich vielleicht besser als Essay bezeichnen – hat beinahe zwangsläufig zur Folge, darüber nachzudenken, wie die prognostizierte nicht-menschliche Existenz aussehen und ob der Planet Erde nicht auf andere Weise gerettet werden könnte, als mit Hilfe der beschriebenen Cyborgs.
Die Lektüre ist zeitweise irritierend, dann wieder ausgesprochen inspirierend.
Ob das Leben erstrebenswert ist für diejenigen, die dann auf dem Planeten leben, ist eine der offenen Fragen.