Andrea Wulf : Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich
Seit wann glauben wir, dh. vor allem wir westeuropäisch geprägten Privilegierten der Welt, dass wir das prinzipielle Recht hätten, uns zu nehmen, zu tun, was wir wollen? Woher kommt diese uns ganz selbstverständliche Sicherheit, dass die Wünsche unsers Ichs der Maßstab unseres Handelns sein dürften, ja sollten? Andrea Wulf verortet die Geburtsstätte dieser Freiheit des Individuums während der Dekade um 1800 in Jena.
Inmitten eines absolutistisch geprägten Europas, der deutschen Kleinstaaterei, bei der Monarchen, Fürsten und Regenten tief in das privateste Leben ihrer Untertanen eingriffen, wurde in dieser Universitätsstadt mit gerade 4500 Einwohnern das Zentrum der abendländischen Philosophie geformt. Es prägt noch heute unser Leben, Denken, Handeln, Sein und unsere Emotionen. Der geistige Umsturz vom noch mittelalterlichen Weltbild, in dem das Ich lediglich ein „Rädchen im göttlichen Uhrwerk“ war, über Kants Ermächtigung des hier schöpferisch-freien Ichs zum „Gesetzgeber der Natur“ bis zu Fichtes sich selbst setzenden und damit freien Ichs, dessen Begrenzungen letztlich von diesem selbst geschaffen sind, war DAS prägende intellektuelle Erdbeben, das unser modernes Denken hervorbrachte.
Dieses Denken (und Fühlen) entstand nicht in akademisch dünner Luft. Es wurde leidenschaftlich gelebt von streitbaren, phantasievollen, klugen und unkonventionellen Menschen. Zu dieser Gruppe „fabelhafter Rebellen“ gehörten Philosophen, Dichter und Wissenschaftler mit einem engen Kern und loser Zugehörigkeit: Fichte, Schelling, Hegel, die Schlegel-Brüder, in dieser Schaffensphase auch Goethe und Schiller, Alexander von Humboldt, natürlich Novalis und Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, die zwar die Namen ihres Vaters und ihrer drei Ehemänner trug, aber mit ihrem Mut und Freigeist das Zentrum der Geschichte bildet.
Andrea Wulf, die vor allem mit ihrer Humboldt-Biografie bekannt wurde, lässt uns mit den Augen dieser Menschen sehen, den Turbulenzen, privaten und politischen Skandale ihres Lebens folgen und ihre leidenschaftlichen Auseinandersetzungen erleben. Spannender – und unterhaltender – kann Geistesgeschichte nicht sein. Der reich bebilderte und mit Karten ausgestattete Band ist zusätzlich auch graphisch ansprechend gestaltet.