Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt
Judith Hermanns neues Buch basiert auf ihren Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ und wird folgend von ihr kommentiert: „Das Schreiben über das Schreiben ist offenbar und erwartungsgemäß eigentlich vermieden worden, stattdessen haben sich Menschen und Situationen aufgezeigt, die das Schreiben beeinflusst haben.“
Das Thema ist also eher das, was die Autorin nicht erzählt aus ihrem Leben. Dazu tauchen viele entscheidende Figuren und Momente auf, die das aus ihren Texten Bekannte umrahmen und einordnen.
Kindheit und Jugend, Familie und Freunde, für Hermann ihre „erweiterte und erwählte“ Familie, sowie Lebensorte, wie Berlin und Friesland, die Nordsee – alles das erscheint vor uns in Szenen und Situationen wie Bilder, kraftvoll, pointiert und leuchtend vor dem Hintergrund der von der Autorin erlebten Zeitgeschichte, dem Mauerfall, der nachfolgenden Zeit der Wildheit und Offenheit vor dem Übergang zum Istzustand von Ordnung, Struktur und Domestizierung.
Wenn sich Menschen im echten Leben begegnen, die voneinander in den Büchern Hermanns gelesen haben und diese Begegnung ihrerseits literarisch beschrieben wird, hat man das Kernprinzip des Buches vorgeführt bekommen:
„Das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang. Träume, aufgeschriebene Wünsche, was ich mir schreibend vorstelle. Etwas, von dem ich weiß, dass ich es besessen habe, nach dem ich mich sehne, ein Fehlen. Die Erzählerin ist die kleinste Puppe in der russischen Matrjoschka, die Geschichte der Kokon um sie herum.“ Aus dem Verschweigen entsteht ein Schutzraum, dem „Leser bleibt es überlassen, sich das auszudenken, Trauma, Verlust, Missbrauch, Trauer, Abwesenheit, Tod und Angst, oder außen vor zu bleiben.“
Hermanns Schreiben „imitiert Leben“, dieser erste, quasi autobiografische Band thematisiert genau den Unterschied zwischen Leben und Schreiben, den Verzicht, die Lücke. Die Erkennbarkeit vom Leben in Literatur ist zwar sehr spannend, doch deutlich entscheidender ist das Erzählen des zuvor nicht Erzählten. So entsteht ein eigener Text, eigene Poesie mit Hermanns empfindsamer, stets präziser und doch schwebender Sprache als Zentrum.