Denkmal des Monats Mai

Tiefbunker-Verrosteter Ofen, Foto Roland Gorecki

Geheimer Ort unter dem Kreuzviertel: Stadtarchäologen erkunden Tiefbunker,

der auch mal eine Kneipe war

Gerüchte um eine Kneipe in einem ehemaligen Bunker im Kreuzviertel gab es viele. „Die Grotte“ heißt sie – das haben ZeitzeugInnen erzählt. Aber wie sieht sie aus? Was ist von dem Treff in der Tiefe noch erhalten? Stadtarchäologe Ingmar Luther ist mit seinem Team zum ersten Mal hinabgestiegen und hat einen einmaligen Einblick in die Vergangenheit des Bauwerks erhalten. Wer mit aufmerksamem Blick durch die Stadt geht, der sieht sie noch: Die Hinweise auf unterirdische Schutzräume aus dem Zweiten Weltkrieg. In den letzten Jahren wurden bereits einige dieser zivilen Luftschutzanlagen durch die Denkmalbehörde der Stadt Dortmund dokumentiert und die verbliebenen Zeugnisse vor dem endgültigen Verfall gesichert. Jetzt kam ein ganz besonderer Tiefbunker im Kreuzviertel hinzu. Denn dieses unterirdische Betonbauwerk war nicht nur ein Schutzraum – in der Nachkriegszeit wurde es als Schankbetrieb und Verkaufsraum für Kurzwaren „zweckentfremdet“.

Tiefbunker-Schankraum; Foto: Roland Gorecki

Ein unterirdischer Schutzraum für 390 Menschen
Dicht gedrängt harren sie in dem Tiefbunker aus. Aufgrund der recht geringen Überdeckung von gerade einmal 1,5 Metern gelangt das pausenlose Dröhnen der Motoren der an- und abfliegenden Maschinen und das starke Prasseln und die Erschütterungen durch die Einschläge und Detonationen fast ungefiltert zu den Menschen, die in dem unterirdischen Betonbauwerk im Kreuzviertel ihr Leben zu schützen versuchen.
Die Beschriftung an der Wand „Notraum für Mütter mit Kleinkindern“ weist einzelne Räume als Mutter-Kind-Bereiche aus. Die anderen Schutzsuchenden arrangieren sich. Es ist zur Routine geworden. Dies bezeugen zumindest viele der Zeitzeug*innen, die als Kinder nur Krieg und keine friedlichen Jahre kannten.
Eine Heizung? Die ist nicht erforderlich. Denn die Körperwärme der bis zu 390 Schutzsuchenden macht eine elektrische Erwärmung der Frischluft überflüssig. Warm ist es und stickig, wenn wieder einmal der Strom für die elektrisch betriebene Lüftung ausfällt. „Rauchen verboten“ steht immer wieder in deutlichen Lettern an den Wänden zu lesen. Selbstredend.
In zwei Maschinenräumen sorgen die elektrischen Luftfilter für frische Luft. Bis zu 300 Liter Atemluft pro Minute für jeden Schutzsuchenden saugen die Maschinen bei einem Luftangriff über einen Staubfilter in den Bunker. Sogenannte Normalluft. Für den Fall, dass Kampfstoffe zum Einsatz gekommen wären, hätten sofort weitere Filter „aktiviert“ werden müssen, um Schwebstoffe und gasförmige Kampfstoffe aus der Luft zu Filtern. Dadurch reduziert sich jedoch die Menge der zur Verfügung stehenden „Schutzluft“ auf etwa 30 Liter pro Minute. Immer wieder sorgen die schweren Angriffe auf die Stadt dafür, dass die Stromversorgung für längere Zeit ausfällt. Mittels Handkurbeln müssen die Menschen im Bunker dann selbst die Pumpe in Gang setzen, um die Belüftung im Innern am Laufen zu halten.
Die Schutzsuchenden im Tiefbunker im Kreuzviertel haben Glück. Das Bauwerk bleibt von Bombentreffern verschont.

Ein Schankbetrieb unter der Erde
Mit der Kapitulation Deutschlands endet am 8. Mai 1945 in Europa der fünf Jahre und acht Monate andauernde Zweite Weltkrieg. Menschenströme irren durch Europa. Überlebende der Konzentrationslager, Fremdarbeiter, einstige Kriegsgefangene und Soldaten. Aber auch Flüchtlinge und Heimatvertriebene.  Die Städte zerstört, es mangelt an Wohnraum und die Versorgung ist der Menschen mit dem Lebensnotwendigen ist spätestens seit dem Zusammenbruch der Wirtschaft im Frühjahr 1945 kaum noch gewährleistet. Die Rationierung von Lebensmitteln, der von den Alliierten verhängte Lohnstopp und die stetig fortschreitende Geldentwertung führen zu einer weiteren Verschärfung der Lage.
Bereits Ende der 40er Jahre weisen erste schwache Signale auf eine Erholung der sozialen und wirtschaftlichen Lage hin. Der Wiederaufbau schafft Arbeit, die Währungsreform vom 20. Juni 1948 führt zu einer Stabilisierung und der enorme Bedarf an „Alltagsgegenständen“ führt zu einer Wiederbelebung der Wirtschaft. Auch in Dortmund

Tiefbunker-Fundstücke; Foto: Denkmalbehörde

ist dieser Aufbruch spürbar. Jede eigene Initiative bei der Neueröffnung von Gewerbetrieben wird begrüßt und behördliche Bedenken nach Möglichkeit zurückgestellt. So auch bei einem Vorhaben im Kreuzviertel – der Eröffnung einer Eisdiele bzw. eines kleinen Schankbetriebs. Doch ein normales Ladenlokal steht nicht zur Verfügung. Die Idee: Eis, Kaffee und Unionbier unter der Erde zu verkaufen. Wenig später ist der Antrag genehmigt und die Konzession für einen Schankbetrieb ausgestellt. In dem zur Hälfte entmilitarisierten Bunker darf serviert werden.
„Benutzbar, ist zur Hälfte entmilitarisiert und wird […] als Eisdiele benutzt. Die andere Hälfte wird […] als Lager und Verkaufsraum verwandt“ so lautet der nüchterne Vermerk des 2. Polizeirevier vom 1. Dezember 1949 zum Tiefbunker im Kreuzviertel.

Schokoladeneis und Herrengedeck…

Die ersten Besucher*innen des Lokals „Grotte“ erkennen ihren ehemaligen Schutzraum fast nicht wieder. Zwei große halbrunde Wanddurchbrüche sorgen für eine Aufweitung der engen Räume. Die Außenwand ist mit einem Blendmauerwerk mit eigenen Bleiglasfenstern versehen. Tapeten sind an die Wand gekleistert und kleine Lampen aufgehängt worden. Im Gastraum stehen Tische, Stühle und Garderobenständen. Hinter der halbrunden Theke wird neben Kaffee und „Schaumwein“ auch Dortmunder Union-Bier –  Export-Hell oder Pils – ausgegeben. Ein ehemaliger Durchgang und der dahinterliegende Raum dienen nun als Küche. In einer großen Maschine wird das Eis angerührt und auf dem gusseisernen Ofen wird frischer Kaffee gebraut. Ein Blick auf die Speisekarte verrät: Es gibt unter anderem Mocca- oder Ananassorbet für 0,73 Mark, Cherry-Becher für 1,09 Mark, Schoko-Becher für 1,19 Mark, alles auf Wunsch auch ohne Sahne. Gern sind wir nach einem erfolgreichen Bundesligaspiel des BVB in die Grotte eingekehrt, um bei einem Herrengedeck für 3,20 Mark das Ergebnis zu feiern, so erinnert schmunzelnd ein Zeitzeuge.

… Hobbyraum und Abenteuerspielplatz

Tiefbunker-Fundstücke; Foto Denkmalbehörde

Bis 1971 wird die eine Hälfte des ehemaligen Tiefbunkers als Eisdiele genutzt. Dann führen neue Bedingungen beim Arbeitnehmerschutz, aber auch die Ausführungsbestimmungen des neuen Gaststättengesetzes dazu, dass keine Verlängerung der Schankkonzession ausgegeben wird.
In dem zweiten Teilstück des Tiefbunkers war ebenfalls Ende der 1940er Jahre ein kleines Warenlager samt angrenzendem Verkaufsraum für Kurzwaren eingerichtet worden. Vermutlich ist dieser Gewerbebetrieb aber schon etwas früher aufgeben worden oder an einen anderen Ort umgezogen. Zumindest lassen das die wenigen archäologischen Zeugnisse zu einem solchen Betrieb, wie auch die fehlende Kenntnis der Zeitzeug*innen von einem derartigen Gewerbe vermuten.
Obwohl von offizieller Seite keine Nutzung des Tiefbunkers erlaubt ist, wird er bis in die frühen 80er Jahr immer wieder aufgesucht. Das archäologische Fundmaterial belegt: Die dunklen Kammern dienen offenbar einem Fotografen als Studio für die Entwicklung seiner Filme. Auch Kinder und Jugendliche sind immer wieder „Gäste“ des ehemaligen Schutzraums und der Eisdiele. Nachdem Unbekannte 1981 ein Feuer in den Räumen legen, wird die Anlage versiegelt.

Ein Denkmal? Nach 40 Jahren „wiederentdeckt“

Das feuchte Milieu im Tiefbunker hat unweigerlich dazu geführt, dass ein großer Teil des Inventars in den vergangenen Jahrzehnten verrottet ist. Bislang ist die Anlage fast vollständig von modernem Vandalismus verschont geblieben. Eine absolute Seltenheit. Daher wurde vor wenigen Wochen durch die Denkmalbehörde, zusammen mit dem Vermessungs- und Katasteramt, dem Tiefbauamt und Mitarbeiter*innen des Bereiches Marketing und Kommunikation in einer konzertierten Aktion an zwei Tagen eine vermessungstechnische, archäologische und filmische Dokumentation des Tiefbunkers „Grotte“ durchgeführt. Heute sind alle vergänglichen Funde und wichtigen Zeugnisse geborgen und befinden sich derzeit in der Reinigung und Aufbereitung in der Denkmalbehörde.
Das Relikt erfüllt mit seiner vielschichten Historie zahlreiche Anforderungen um zukünftig als offizielles Denkmal in die Denkmalliste der Stadt Dortmund gelistet zu werden.

Quelle: Pressestelle der Stadt Dortmund; Text: Ingmar Luther, Stadtarchäologe; Fotos: Roland Gorecki, Stadt Dortmund & Denkmalbehörde.