Am 1. September 1939 um 4.45 Uhr eröffnete das Linienschiff ‚Schleswig-Holstein‘ das Feuer auf polnische Befestigungsanlagen auf der Westerplatte vor der Freien Stadt Danzig. Dieser Angriff markiert in der Rückschau den Beginn des 2. Weltkrieges.
Wie bei fast allen Kriegen wurde gelogen und die Bevölkerung in die Irre geführt.
Adolf Hitlers Rede – im Großdeutschen Rundfunk übertragen – begann sofort mit einer Lüge, denn er benannte Polen als Aggressor und führte aus:
„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten!“
Im Aufruf für die heutige Herner Friedensveranstaltung heißt es dazu: „Kaum ein Mensch ahnte, dass damit der 2. Weltkrieg begonnen hatte.“
Und weiter ist zu lesen: „1945 blickte die Welt auf über 70 Millionen Tote, zerbombte Städte, verwüstete Landschaften und zerschmetterte Lebensentwürfe.“
Ja, wir Deutsche hatten mit diesem Krieg zum zweiten Mal einen Weltkrieg entfesselt, der die Menschheit an den Rand des Abgrundes führte. Die Deutschen wurden einmal mehr Täter, für die begangenen Verbrechen wir uns vor der Welt schämen müssen. Aber die hier lebenden Menschen waren auch Opfer. Denn dieser 2. Weltkrieg wurde in entscheidendem Maße in aller Brutalität und Härte auch auf deutschen Boden ausgetragen.
„… Zerschmetterte Lebensentwürfe“ – das klingt abstrakt und weit entfernt.
Ich möchte das mit der Lebenswirklichkeit meiner Familie füllen!
Der Bruder meines Vaters, Willi geb. 1919, ließ – so hieß es während des Krieges in einer kleinen Zeitungsanzeige – „bei den schweren Kämpfen im Osten am 13. September 1942 sein junges Leben. Es war ihm nicht beschieden, seine Lieben wiederzusehen.“
Mein Vater, *1922, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls als Soldat / Richtfunker an der Ostfront. Er erhielt einen Brief seines Vaters / meines Opas und musste lesen: „Willi ist gefallen! Ich kann Dir nicht schildern, wie mir geschah! Als ich mich einigermaßen gefasst hatte, bin ich zu Mia gegangen – aber es war schlimm, kannst Du Dir ja denken. Beide hatten sich gern und da schlägt der unmenschliche Krieg uns so eine Lücke!“
Willi & Mia waren verliebt und hatten, weil Willi zurück an die Front musste, kurzentschlossen geheiratet. Es war ein sehr kurzes Glück. An der Front erfuhr Willi, dass er Vater würde … Mia berichtete ihm im Brief von ihrer Schwangerschaft. Träume, Glück, Familie, Geborgenheit. Stattdessen lag Willi nun elendig krepiert in einem ausgebrannten Panzer in Stalingrad.
„Es ist so schlimm, dass ich nicht einmal ein Grab habe, an dem ich um ihn trauern kann!“ brachte mein Opa zu Papier.
Das Kind, Ursula genannt, wurde 1943 geboren. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt …
Zerschmetterte Lebensentwürfe, zerbrochene Herzen und verwundete Seelen. Das hinterließ dieser Krieg – das hinterlässt jeder Krieg! Auch heute weinen wieder Mütter, Väter um ihre verbrannten und zerfetzten Söhne und Töchter. Kinder sind traumatisiert, weil sie den Schrecken des Krieges erleben …
Panzer, Bomben, Raketen, Drohnen hinterlassen Verwüstung, Zerstörung, Verletzte und Tote. Die seelischen Verwundungen und Traumata währen bis ans Lebensende und werden an die nächsten Generationen weitergegeben.
Mein Vater überlebte den Krieg unverletzt. Ein Wunder, denn sein Jahrgang 1922 war ein Jahrgang mit hohem ‚Blutzoll‘.
„Das lag daran, dass wir nur mit einer Kurzausbildung an die Front kamen und dort sofort abgeknallt wurden, wie die Hasen!“ erzählte er mir einmal in den seltenen Augenblicken, in denen er vom Krieg sprach.
Er kam in Russland und Italien zum Einsatz. Wie die meisten Kriegsheimkehrer zog er das Schweigen vor. Bildlich gesprochen: ‚Das Erlebte hatte ihm die Sprache verschlagen!‘ Aber: Er verabscheute den Krieg, glorifizierte nichts und machte keinen Hehl aus seiner Meinung. Kriegsspielzeug hasste er und bedachte meine Cowboypistole, die ich einmal stolz zu Karneval präsentierte, mit dem Kommentar: „Krieg ist kein Spiel und auch nicht lustig! Krieg ist grausam!“
Nach seinem Tod 2009 fanden wir Kinder in seinem Nachlass eine große von ihm angefertigte Landkarte, in der er genau eingezeichnet und mit Daten versehen hatte, an welchen Orten er mit der Nazi-Wehrmacht eingesetzt war. Dazu einige Fotos. Zu sehen waren Orte, in denen auch jetzt wieder der Krieg tobt und mit deutschen Waffen und Munition geschossen wird. Gut, dass mein Vater das nicht miterleben muss – es hätte alle seine traumatischen Erinnerungen wieder hochkommen lassen.
Schon wieder Krieg!
Nach 1945 sollte doch Schluss damit sein.
Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!
Sehr schnell wurde diese Chance vertan. Die alten Kriegsgewinnler krochen wieder aus den Löchern. Die Rüstungsindustrie nahm weltweit Fahrt auf im Ost-West-Konflikt. Bewaffnet bis an die Zähne, dem endgültigen Vernichtungsschlag nahe, wurden Stellvertreterkriege in Korea, Vietnam … geführt.
Dann wie ein Wunder: Nach jahrzehntelanger Blockkonfrontation zwischen Ost und West gab es eine realistische Chance auf eine friedliche, neue Weltordnung. Auf eine gemeinsame Entwicklung der Menschheit ohne bis an die Zähne bewaffnet zu sein und sich zu belauern. Aber diese Chance wurde vertan! Wer hatte eigentlich kein Interesse an einer partnerschaftlichen Aussöhnung zwischen Ost und West, auf friedlichen Handel und Völkerverständigung? Auch das darf nicht vergessen werden und diese Frage muss heute in aller Deutlichkeit gestellt werden.
Erinnern wir uns:
Im September 2001 war der am 31.12.1999 gewählte Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zu Gast in Deutschland. Der Staatsbesuch war verbunden mit einer Rede im Deutschen Bundestag am 25.09.2001 – eine besondere Auszeichnung. Putin ging in seiner vielbeachteten Rede auf die neue Weltlage ein und wies auf die Möglichkeiten hin, die eine partnerschaftliche und freundschaftliche Entwicklung für beide Seiten herausbilden könne. Dann aber fügte er einige kritische Sätze an, die aus heutiger Sicht besonders beachtenswert sind:
„Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, aneinander zu vertrauen. Trotz der vielen süßen Reden leisten wir heimlich Widerstand. Mal verlangen wir Loyalität zur NATO, mal streiten wir über die Zweckmäßigkeit ihrer Ausbreitung.“ „wir haben uns daran gewöhnt, in diesem Count Down System zu leben, dass wir die heutigen Veränderungen in der Welt immer noch nicht verstehen können, als ob wir immer noch nicht verstehen können, als ob wir nicht bemerken würden, dass die Welt nicht mehr in zwei feindliche Lager geteilt ist!“ 1
Die von Putin ausgestreckte Hand für eine „vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft“ wurde zwar parteiübergreifend mit stehendem und anhaltendem Beifall bedacht, doch in der Praxis blieb der Feind ein Feind. Statt beiderseitig und kontrolliert deutlich abzurüsten, die Blocklogik zu überwinden, erweiterte die NATO ihren Einfluss bis vor die Türen Russlands.
Wie sollte da Vertrauen wachsen?
Der Westen zeigte faktisch keinerlei Interesse an tatsächlicher Abrüstung, einer wirklichen Aussöhnung. Das Zeitfenster für einen weltweiten Abrüstungsprozess schloss sich wieder. Putin entwickelte sich zu einem Autokraten, den alles Westliche immer sichtbarer anekelte. Für uns Zeitgenossen wurde er zu einem Aggressor, der friedliche Nachbarländer überfällt. US – Präsident Barack Obama verspottete Putin, als dieser 2014 die Krim annektierte und nannte das größte Land der Welt eine ‚Regionalmacht‘!2
…
Welche Arroganz, welche Dummheit.
Vielleicht hinkt der folgende Vergleich – aber ich nenne ihn:
Ich habe viele Jahrzehnte im Kinderschutz gearbeitet. Ich verfolgte die ‚Karrieren‘ von Kindern, die von ihren Eltern gedemütigt und geschlagen wurden.
Wissen Sie, was vielfach aus ihnen wurde?
Höchst aggressive Menschen, die ihre Wut an Schwächeren auslassen.
Kann man dieses Beispiel auf internationale Beziehungen übertragen? Ich meine ja. Denn wir müssen verstehen, warum sich die Geschichte so tragisch entwickelte, wie jetzt sichtbar. Natürlich kann man sagen: Putin war schon immer ein Despot, er hat alles nur geheuchelt. Ich halte das allerdings für eine unzutreffende Erklärung – besser Diagnose – einer Negativentwicklung.
Im internationalen Maßstab sehen wir überdeutlich die Folgen von westlicher Demütigung, Arroganz und Überheblichkeit. Damit kann das Verbrechen Putins, am 24. Februar 2022 einen militärischen Einmarsch in die Ukraine vollzogen zu haben, nicht entschuldigt werden. Aber wir müssen erkennen, dass der Westen mit seiner Führungsmacht USA keinesfalls unschuldig an der Misere ist.
Was tun in dieser verfahrenen Situation?
Müssen wir alle unsere Grundsätze – wie vielfach die Grünen es tun – über Bord werfen und uns von Pazifisten zu glühenden Rüstungsbefürwortern a la Panzer-Toni (Anton Hofreiter) wandeln, die Hand in Hand mit Marie Strack Zimmermann (FDP) keine Kompromisse mehr kennen und immer stärkere Waffen fordern?
Wohl eher nicht. Unsere pazifistischen Grundsätze müssen immer anhand der konkreten Wirklichkeit auf Tauglichkeit hin überprüft werden. Wer uns aber für unser Festhalten am Pazifismus ‚Lumpenpazifisten‘ nennt, lenkt in übler Form davon ab, dass man sich selbst auf den mit Leichen übersäten Kriegspfad begeben hat, dessen Ende unbestimmt ist.
Wie steht es um unseren Pazifismus?
Sind wir radikale Pazifisten, die jegliche Form von Gewaltausübung und Kriegsführung ablehnen? Was empfehlen wir den Überfallenen?
Oder gestehen wir wie der berühmte Bertrand Russell mit Blick auf Adolf Hitler ein, dass es eine moderate Form eines relativen Pazifismus geben muss, der unter extremen Umständen eine militärische Verteidigung bei Angriffskriegen und Massenmorden zulässt?
Aber: Wie weit soll das gehen?
Diese Debatte zu führen ist sicherlich notwendig, hilft uns aber in der konkreten Lage jetzt nicht weiter.
Denn wir erleben einen Krieg, der sich festgefressen hat. Ein Ende ist nicht in Sicht und er droht jederzeit, weiter zu eskalieren. Der Krieg kostet schon jetzt Milliarden, die vor allem im Sozialbereich eingespart werden. Krieg und Rüstung produzieren täglich Umweltschäden in einer Größenordnung, die uns die Haare zu Berge stehen lässt. Dagegen sind die Emissionswerte von PKWs wirklich Peanuts …
Nein: Derzeit kann es der Friedensbewegung nicht um die Frage gehen, ob man bei aller Solidarität mit der Ukraine auch Putins Haltung und Entwicklung begreifen sollte. Auch steht die Frage, welche Art von Pazifismus wir bevorzugen, nicht im Vordergrund.
Es geht jetzt und heute darum, dafür zu kämpfen, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beidseitig beendet wird. „Die Waffen nieder!“ Dieser richtungsweisende Ruf der Vorkämpferin der Friedensbewegung, Bertha von Suttner, hat nichts an Aktualität eingebüßt. Der Konflikt muss sofort beendet werden, damit das Töten, Morden und Zerstören beendet wird. Wenn die Waffen schweigen, können Friedensgespräche geführt werden, um tragfähige Lösungen für beide Seiten zu finden. Das wird sehr schwer sein!
Aber es gibt eine Reihe von Beispielen der Geschichte, dass so etwas gelungen ist. Die Deutsch-Französische Aussöhnung ist ein Beispiel, der keineswegs geklärte Status des Saarlandes (französisch oder deutsch) nach dem 2. Weltkrieg bis 1956 ist ein weiteres Beispiel aus unserer eigenen Geschichte. Beide zeigen, dass aus erbitterten Todfeinden Freunde werden können, die einvernehmlich über die Zukunft einer Region entscheiden und gemeinsame Träume entwickeln können.
Die Bundesregierung und NATO dürfen sich in diesem Konflikt nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die Ukraine entscheide allein über den Zeitpunkt der Beendigung des Krieges. Falsch.
Durch unsere Waffenlieferungen wird der Krieg weiter befeuert und droht zu eskalieren. Wenn Bundeskanzler Scholz Schaden vom Deutschen Volk abwenden will, muss er sich jetzt auf die Seite derjenigen stellen, die für Friedensprozesse werben – wie zum Beispiel der brasilianische Präsident Lula. Dieser benötigt weltweit mehr Unterstützung für seine Friedensbemühungen, besonders aber aus Deutschland, denn wir wissen leidvoll, was Krieg heißt.
In diesem Sinne rufe ich euch zu: Krieg dem Kriege! Kämpfen wir überall für Frieden und Völkerverständigung.
Menschenverächtern, religiösen Fanatikern, Kriegsgewinnlern in Konzernzentralen und Rassisten setzen wir eine weitere bewährte Losung der Friedensbewegung entgegen:
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!
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1 Deutscher Bundestag, Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins im Deutschen Bundestag am 25.09.2001
2 Der Spiegel, 25.03.2014