Über 100.000 Kinder und Jugendliche lebensverkürzend erkrankt

Bedarf an Kinderhospizarbeit in Deutschland viel höher als gedacht

Von Sandra Schulz *

„Der Begleitungsbedarf für todkranke Kinder in Deutschland ist viel höher als gedacht“, sagt Thorsten Haase, Geschäftsführer der Deutschen Kinderhospiz Dienste in Dortmund und hält einen Artikel aus den Ruhr Nachrichten in den Händen. Darin geht es um den todkranken Emil aus Dortmund. Der Dreijährige und seine Familie werden seit zwei Jahren von seiner Organisation unterstützt. Emil ist nur einer von vielen. Die Deutschen Kinderhospiz Dienste begleiten aktuell 123 Familien mit schwerkranken Kindern in Dortmund, Schwerin, Regensburg, Frankfurt, Bochum und Westerwald. Haase schätzt die Zahl der Familien, die wirklich Hilfe brauchen, aber oft nicht durch die Angebote in der ambulanten Kinderhospizpflege erreicht werden, auf weit über 100.000 ein. Aber wie hoch ist die Zahl der betroffenen „lebensverkürzend erkrankten Kinder“, wie es im Fachjargon heißt, wirklich? Gibt es wissenschaftliche Erhebungen?

Bundesministerin Lisa Paus will die betroffenen Familien entlasten
Der Deutsche Kinderhospizverein spricht von einer hohen Dunkelziffer und nennt die Zahl von 50.000 betroffenen Familien in Deutschland. „Diese Zahl stimmt definitiv nicht, sie ist mindestens doppelt so hoch“, meint Haase. Auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus (SPD) spricht von 100.000 betroffenen Familien. Anlässlich der Pressekonferenz zum Erklärfilm „Hospizarbeit und Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche“, eines Gemeinschaftsprojektes mehrerer Branchenpartner im November 2023 sagte die Bundesministerin: „In Deutschland leben rund 100.000 junge Menschen mit lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen. Den größten Teil ihrer Versorgung schultern ihre Familien.“

Studie: Bis zu 400.000 lebensverkürzend erkrankt, rund 200.000 mit palliativem Bedarf
Wie belastend die Situation für die betroffenen Familien ist, weiß auch Prof. Dr. Sven Jennessen vom Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine im März 2023 veröffentlichte Studie FamPalliNeeds lieferte erstmals umfassende Daten zu den unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnissen der Familien, in denen erkrankte Kinder und Jugendliche leben oder gelebt haben. Jennessen: „Bis dahin gab es in Deutschland keine Studie, die sich mit Bedarfen und Bedürfnissen von Familien mit lebensverkürzend erkrankten Kindern und Jugendlichen beschäftigt hat.“

In seiner zuvor veröffentlichten Studie PraeKids stellte er 2022 fest, dass in Deutschland bis zu 400.000 Kinder lebensverkürzend erkrankt sind. „Wir haben erstmalig Krankenkassendaten aller gesetzlich Versicherten in Deutschland gehabt, anhand derer wir die Diagnosen, die entweder lebensbedrohlich oder lebensverkürzend sein können, valide erheben konnten. Wenn man die lebensbedrohlich erkrankten Kinder und Jugendlichen herausrechnet, ist man bei einer Zahl von etwa 200.000, die einen palliativen Bedarf haben,“ so der Professor.

Kinderhospizangebote müssen ausgebaut und bekannter werden
Mit seiner wissenschaftlichen Erhebung fand er auch heraus, dass bis zu 70 Prozent der betroffenen Familien die Angebote deutlich früher wahrgenommen hätten, wenn sie sie gekannt hätten. Und: Viele Familien werden zu spät oder gar nicht durch Kinderhospizangebote erreicht. „Die betroffenen Eltern kennen ihre Rechte oft nicht und nehmen die Hilfsansprüche mangels Informationen auch nicht wahr. Außerdem wissen die Eltern nicht, wie sie ihre Rechte einfordern können. Über die Kranken- und Pflegekassen finanzierten Leistungen werden häufig abgelehnt, sodass die betroffenen Familien in den Widerspruch gehen müssen. Dabei wünschen sie sich mehrheitlich mehr Unterstützung, um ihre Rechte auch realisieren zu können“, meint Jennessen und ergänzt: „Und noch ein wichtiger Fakt kommt hinzu: „Das gesellschaftliche Bild, das von Hospizarbeit vermittelt wird, ist zu stark auf die letzte Lebensphase mit Sterben und Tod bezogen, dabei wird Kinderhospizarbeit vorwiegend zur Entlastung und Unterstützung genutzt. Hier gibt es bei den Familien einen großen Aufklärungsbedarf und eine Hemmschwelle, die Angebote zu nutzen.“

„Hospiz, das klingt schrecklich nach Tod. Aber mein Kind stirbt doch nicht, bei uns wird noch alles gut“, schildern Emils Eltern Jessica und Manuel ihre ersten ablehnenden Gedanken gegenüber Kinderhospizarbeit im Interview mit den Ruhr Nachrichten. Auch sie zögerten deshalb zunächst. Heute sind sie froh über die Unterstützung der Deutschen Kinderhospiz Dienste. Sie möchten mit ihrem Interview Aufmerksamkeit dafür schaffen, wie wichtig die Kinderhospizarbeit für die betroffenen Familien ist, denn in Deutschland leben viel mehr todkranke Kinder als gedacht.

* SANDRA SCHULZ  arbeitet seit über 30 Jahren als freie Journalistin. Das Thema Kinderhospizarbeit ist ihr eine besondere Herzensangelegenheit, denn eine befreundete Familie hat eine lebensverkürzend erkrankte elfjährige Tochter. Viel zu spät hat die Familie von den Angeboten der ambulanten Kinderhospizdienste erfahren und war lange mit der Lebensherausforderung auf sich allein gestellt. Ihr ist es daher wichtig, die Angebote bekannt zu machen. Denn: Es sind viel mehr Familien in Deutschland betroffen als die meisten denken.