Heute:
Erinnerungen von Reiner Schmidt (*1935) Schloßstraße, aufgeschrieben von Otto Schmidt
im November 2008 ( 3. Teil )
Vorbemerkungen
Im Juni 2009 hat die Gruppe Bodelschwingh-Westerfilde des Heimatvereins Mengede ein kleines Büchlein herausgegeben, das Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Bodelschwingh und Westerfilde wiedergibt. Diese Erinnerungen sind in 300 Exemplaren erschienen, bis auf den Archivbestand sind sie inzwischen alle vergriffen.
Da die Texte auch heute noch aktuell sind, haben wir uns entschlossen, in loser Folge und auszugsweise die „Erinnerungen“ nachzudrucken. Wir denken aber auch, mit einer erneuten Veröffentlichung dem Wunsch der damaligen Herausgeber nach einer „lebendigen Weitergabe unserer erlebten Geschichte in Bodelschwingh und Westerfilde“ zu entsprechen. MENGEDE:InTakt! setzt heute die Erinnerungen des heute 81-jährigen und früheren Bodelschwinghers Reiner Schmidt fort. Einer der damaligen Herausgeber – Otto Schmidt – hat die Betreuung der auszugsweisen Neuauflage übernommen und wird die damaligen Angaben – wenn nötig – durch zusätzliche Informationen ergänzen. (K.N.)
Die Zurückstellung des Vaters vom Wehrdienst
Mein Vater war vom Dienst mit der Waffe zurückgestellt. Er arbeitete in einem kriegswichtigen Betrieb, in der Kokereiabteilung der Gelsenkirchener Bergwerks AG, Gruppe Dortmund. Dort war er für die Mess- und Reglungstechnik der Kokereien eingesetzt. Die Zurückstellung gab es nicht umsonst. So war er Mitglied der Gasschutzwehr und des Luftschutzes auf der Kokerei Hansa und der (Kriegs)Feuerwehr Bodelschwingh. Der Luftschutzeinsatz während der Bombenangriffe auf der Kokerei Hansa hatte wohl das größte Angstpotential (wenn die Gasometer hochgehen, komm ich nicht wieder). Nach den Bombenangriffen auf Westerfilde haben seine Feuerwehrkameraden und er Verletzte und Tote geborgen. Ich habe ihm von zu Haus einen Henkelmann mit Kartoffeln zur Bäckerei Nöthe in Westerfilde gebracht, damit er nicht „umkippte“ bei der schweren Arbeit. Frau Nöthe lag in den Bunkertrümmern unter dem Backofen und konnte nicht leben und nicht sterben.
Eine Ausbildung an der Waffe hatte mein Vater, so wie viele seiner Berufskollegen, nicht gehabt. Es blieb nicht aus, dass er von Kollegen in ihrer Not angefeindet wurde: „Warum werden wir jetzt eingezogen und Du nicht“?. Sie hatten „nur“ drei Kinder und wurden noch 1944 eingezogen. Er hatte vier Kinder und war noch nicht „dran“.
Als nach dem Krieg die Entnazifizierungswelle (Persilscheine, 1949), bei der er auch zu Kollegen als Zeuge befragt wurde, abgeschlossen war, fragten ihn einige (schon wieder), wo er denn gedient hätte.
Die Heimatfront
Mit Jugendlichen, Freigestellten und alten Männern sollte die Heimat verteidigt werden. Ich weiß nur von meinem Vater, dass er mit anderen Männern zum Volkssturm eingeteilt war.
Sie sollten Bodelschwingh verteidigen. Dazu wurden sie vor Grollmanns Büschchen, westlich vom kath. Friedhof, nordwestlich der Autobahn, in dem Gebrauch von Panzerfäusten unterwiesen.
Das Ende des Krieges, Bodelschwingh liegt noch zwischen den Fronten.
Durch die explodierenden Bomben und Granaten gingen die Fensterscheiben zu Bruch. Ersatzglas gab es nicht mehr; die Scheiben zu ersetzen war ja auch sinnlos. Als Ersatz wurde Ölpapier, in das ein Gitter von Baumwollfäden eingelegt war, an die Fensterrahmen genagelt. Das gab bei der Druckwelle nach. Nach draußen gehen konnten wir nicht; man durfte sich nicht blicken lassen, Lebensgefahr! Ich hatte an unserem Wohnzimmerfenster das Ölpapier so präpariert, dass es ich es etwas zurück ziehen und dann nach draußen sehen konnte. Ich konnte sehen: Deutsche Soldaten kamen auch in die Schloßstraße.
Neben uns, vor dem Garten der Familie Vormbaum (Herr Vormbaum war Vorsteher des Güterbahnhofs Bodelschwingh gewesen) stand ein großes Cabrio mit aufgesetztem Holzvergaser im Kofferraum. Über die Rücksitze ragten die Sprenggranaten der Panzerfäuste. In unserem Garten hatte morgens ein Offizier mit mehreren Soldaten und Funkgeräten Stellung bezogen. Der Offizier sah ordentlich aus; die Soldaten „abgerissen“ und ohne Stahlhelm. So sieht und bewertet das ein Kind!
Mein Vater tat das Falsche und fragte den Offizier: „ Ist das denn wirklich nötig, der Krieg ist doch bald vorbei und wenn die Amis rauskriegen, wo sie sind, werden wir hier beschossen. Wollen Sie das wirklich?“ Der Offizier sagte ihm darauf: „Wir verteidigen Deutschland, nicht Sie oder Ihre Familie und schon gar nicht Ihr Haus. Also seien Sie froh, wenn ich Sie nicht wegen Wehrkraftzersetzung anzeige“. Am Abend gaben sie ihre Stellung in unserem Garten auf. Zwei Tage später sollen sie alle tot gewesen, gefallen sein.
Über das Ende des Krieges wird auch von anderen Bodelschwinghern berichtet. Deshalb will ich hier nur erzählen:
An den Granatbeschuss der Amerikaner hatte ich mich schon gewöhnt (so seltsam, wie das klingt). Meist von Mengede kommend, hörte man im Bunker sitzend ein Pfeifen und wusste, solange es pfiff, war man nicht getroffen. Vor den Granaten warnte auch keine Luftschutzsirene. Dann kam etwas, was ich nicht erwartet hatte: Es pfiff nicht mehr, sondern knallte nur noch. Eine Granate hatte einen Betonsturz unseres Balkons getroffen. Die Splitter hatten die Küche der Familie Rüsing zerlegt, Teile der Balkonbrüstung waren in den Kellereingang gefallen. Niemand war verletzt, also ein geringer Schaden.
Die Amerikaner kommen
Nach dem Artilleriebeschuss kamen die Stoßtrupps der Amerikaner im Schutze der Sherman-Panzer (M4). Der erste Eindruck war das fürchterliche Geräusch der Panzer. Das abgrundtiefe Dröhnen der Motore wurde nur noch übertönt durch das Quietschen der Ketten, wenn der Panzer die Fahrtrichtung änderte. Vor dem Garten von Vormbaum hielt einer an. Der Garten war mit einem Zaun zum Bürgersteig gesichert. Der Panzer fuhr rückwärts und machte den Zaun platt, drehte auf der eigenen Achse und fuhr dann in Deckung unter die Birnenbäume. Das hat mich sehr beeindruckt.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges
Nachdem Bodelschwingh durch die Amerikaner erobert oder befreit war, wurde mein Elternhaus (Schloßstraße) beschlagnahmt und als Lazarett genutzt. Innerhalb von Stunden mußten meine Eltern und wir vier Kinder aus dem Haus. Mitnehmen durften wir nur das Notwendigste. Wir konnten bei Menken (Bodelschwingher Straße) unterkommen. Da wohnten wir einige Tage im Bunker. Der war groß und wurde ja nicht mehr gebraucht. Das Lazarett in unserem Haus musste geheizt werden; dafür war mein Vater zuständig. Kohlen waren nicht mehr da. So sollten die Möbel aus dem Kinderzimmer, der Kindertisch und die Eckbank, zerhackt und verfeuert werden. Auf das Bitten meiner Mutter hin, und dem „Vorzeigen“ meiner Zwillingsgeschwister, die ja erst zwei Jahre alt waren, wurde die Spielecke nicht verfeuert. Die Soldaten hatten ein Herz für Kinder! So musste unser Vater auf die Suche nach Brennmaterial gehen.
Irgendwann habe ich den ersten schwarzen Soldaten in meinem Leben gesehen. Ich wusste nicht wieso der so aussah. Erst als er lachte, hab ich mich von meinem Schrecken erholt.
Die Amerikaner hatten Anweisung, keine deutschen Toiletten zu benutzten (Angst vor ansteckenden Krankheiten). Zum Grausen meines Vaters hoben sie in unserem Garten eine Grube für den „Donnerbalken“ aus. Mein Vater hatte dort in der Nähe eine Pistole vergraben. Die hatten Angestellte der GBAG zur Selbstverteidigung bekommen. Dem Aufruf zur Waffenabgabe war er nicht gefolgt. Er hatte die Pistole in Ölpapier eingewickelt, in ein Einmachglas gelegt und im Garten vergraben.
Die Pistole musste weg; sie hatte aber auch einen Wert. So grub er sie heimlich aus und versteckte sie in einem Weidenkorb, in den er Stiefmütterchen gepackt hatte. Am nächsten Tag ging er mit Schüppe und Korb zum kath. Friedhof. Auf dem Weg zum Grab seiner Mutter kamen vom Friedhofskreuz her zwei Amerikaner mit dem Gewehr im Anschlag. Er konnte das Einmachglas noch an der nächsten Gruft verstecken. Die Soldaten schossen auf einen Hasen. Als sie meinen Vater sahen, haben sie ihn „gefilzt“ und gefragt, was er hier mache. Nachdem sie weg waren, hat mein Vater die „eingemachte Pistole“ in dem Grab seiner Mutter versteckt.
Nach einigen Tagen wurde unser Haus wieder freigegeben. Die Pistole hat mein Vater nach Wochen, als die Amerikaner weg waren, über Mittelsmänner an einen Bauern verkauft. Dafür bekam er einen Sack Weizen.
Sechs Wochen nach den Amerikanern kamen die Engländer und bauten eine provisorische Verwaltung und Ordnung auf. Die Versorgungslage war noch sehr kritisch. Ich musste immer noch Milch holen bei Peickenkamps in der Rittershofer Straße in der Mengeder Heide. Auf meinem Weg am Urnenfeld vorbei meine ich gesehen zu haben, dass dort unter Aufsicht von Amerikanern oder Engländern ein Massengrab durch Frauen und alte Männer aufgegraben wurde; auch, dass sich einige Personen dabei übergeben mussten. Ich würde mir wünschen, dass ich das in meiner Erinnerung mit anderen Berichten aus unserer Gegend verwechselt habe.
Die Panzer und der Kriegsschrott
Bei der Verteidigung von Bodelschwingh waren drei amerikanische Panzer abgeschossen worden. Darauf hatten die Amerikaner Bodelschwingh mehrere Tage mit Artilleriebeschuss belegt. Einer der abgeschossenen Panzer stand vor der Litfaßsäule vor der Klümpchenbude beim Kötter Wiese. Die beiden anderen waren in Höhe des heutigen Göllenkamps und Quakmannsweges in Richtung westf. Eisenbahn abgeschossen worden. Der Panzer vor der Klümpchenbude war schnell weg, die beiden anderen standen noch einige Zeit im Feld. Die Türme waren abgesprengt. Wir Kinder hatten jetzt mehr Bewegungsfreiheit. Da haben wir nachgeschaut, ob wir nicht von den Panzern etwas gebrauchen, mitnehmen könnten. Es hat aber so gestunken, dass wir es nicht gewagt haben, in den Panzer zu klettern. Außerdem waren da geborstene Stahlplatten mit Rändern, scharf wie Messer.
Da, wo die FLAK – Batterie der Wehrmacht gestanden hatte, war schon mehr zu holen. In den Bahnkörper waren „Ein-Mann-Deckungslöcher“ gegraben worden. Hier sollten beim Angriff der Jagdbomber auf einen Zug der Lockführer, Heizer und Bremser Deckung finden. In diese Löcher hatten die Soldaten Munitionskisten geworfen. Die Kisten enthielten drei Granaten, komplett mit der Kartusche für die Treibladung. Um an die Treibladung heran zu kommen, haben wir mit einem Hammer vorsichtig auf den kupfernen Leitkranz geklopft, bis wir die Granate von der Kartusche abziehen konnten. Die Treibladung war kein Sprengpulver, brannte nicht explosionsartig ab. Das waren kleine runde Zylinder wie Pellet´s. Mit denen konnte man schön zündeln, das fauchte wunderbar. In welcher Gefahr wir uns befanden, war uns nicht bewusst.
Auf unseren Streifzügen fanden wir auch Kisten mit Maschinengewehr (MG) Munition. Die war gegurtet und jede fünfte Patrone war eine mit Leuchtspurmunition. So ein Gurt wurde mit dem Geschoß zuerst in einen Sandhaufen eingebuddelt, dann auf jede fünfte Patrone ein Nagel aufgesetzt und mit etwas Abstand mit einer Schüppe drauf gehauen. Aus dem Sandhaufen zischten dann Feuerschlangen.
Einige von uns haben auch versucht, MG-Munition im Schraubstock durch Schlagen auf den Zünder abzufeuern, um die Patronen(Messing)hülse zu gewinnen. Der Verlust von Fingern und Verletzungen waren die Folge.
Der Handel mit Kriegsmaterial- und Schrott war für uns Jugendliche ein gutes Geschäft. Wir hatten immer Geld „auf der Patte“. Was so herum lag, wurde eingesammelt. Mancher Bodelschwingher rieb sich die Augen, wenn er einige Zeit nicht auf sein Material geachtet hatte. Dem Schlossherrn soll es mit den verbuddelten Zinkdächern der Stallungen auch so gegangen sein.
Die Schule hatte im September wieder angefangen. Das Leben normalisierte sich etwas. Wir hatten auch nicht mehr so viel Zeit wie früher. Irgendwann war der Schrottmarkt abgegrast und nur noch die großen, schwer beweglichen Teile waren übrig geblieben. So war unsere letzte Aktion der Abtransport von Teilen eines FLAK-Scheinwerfers (150 cm), der auf dem Bodelschwingher Berg gestanden hatte. Die haben wir gemeinsam mit einem Handwagen zu einem Schrotthändler nach Mengede gefahren und zu Geld gemacht.
Ich möchte meinen Bericht nicht schließen, ohne an einige Freunde zu denken, die den Weg in die Nachkriegs-Normalität nicht gefunden haben. Mangels Masse haben sie nach unserer gemeinsamen Zeit Sachen gefunden, die andere noch nicht verloren hatten. Wenn es auch Unrecht war, was sie getan haben, so sollte man ihnen doch zu Gute halten, dass sie in einer schlimmen, orientierungslosen Zeit aufgewachsen sind, in der gute Beispiele nicht so häufig waren.
Mit der Anrufung Mariens, die ich am Anfang erwähnt habe, die mir und so vielen anderen in der Not Trost und Hilfe war, möchte ich meinen Bericht schließen. Ich verbinde das auch mit der Hoffnung, dass wir alle bemüht und erfolgreich sind, Konflikte ohne Waffen zu lösen.
Hilf Maria, es ist Zeit.
Hilf Maria, es ist Zeit,
Mutter der Barmherzigkeit!
Du bist mächtig, uns in Nöten
Und Gefahren zu erretten;
Denn wo Menschenhilf gebricht,
Mangelt doch die deine nicht.
Nein, du kannst das heiße Flehen
Deiner Kinder nicht verschmähen;
Zeige, dass du Mutter bist,
Wo die Not am größten ist!
Hilf, Maria es ist Zeit,
Mutter der Barmherzigkeit.